… denn die deutsche Normalität Juden gegenüber ist antisemitisch

Bemerkungen zur Kontinuität des Antisemitismus

Im Konzert der unzähligen Gedenkveranstaltungen des Frühjahrs 1995 werden immer wieder Stimmen laut, die hoffen und fordern, daß es nun an der Zeit sei, auch zwischen Juden und Deutschen ein normalisiertes Verhältnis einkehren zu lassen. Doch was ist ein normales Verhältnis zwischen Deutschen und Juden? Wenn Deutsche ihr Verhältnis zu Juden in traditioneller Weise normalisieren, bringt dies die Gefahr einer völkischen Mobilisierung mit sich. Die Ideologiegeschichte des nationalbewußten Deutschseins ist mit Antisemitismus untrennbar verbunden. Diese Verbindung ist bis heute wirksam und zeigt sich in der öffentlichen Debatte um deutsche Identität nach dem Anschluß der DDR. Antisemitismus wird im Text als systemhafte Erscheinung in der Ideologiegeschichte und in kollektiven Bewußtseinszuständen verstanden und enthält jeweils zeitgemäße Motivationen und Ausprägungen: Zunächst als christlicher Antijudaismus, später im Zusammenhang von Romantik und völkischer Idee, Anfang dieses Jahrhunderts dann im antikapitalistischen und rassistisch-preudowissenschaftlichen Gewand. Der Text geht der Frage nach, warum völkisch-antisemistische Ideen in Deutschland von der Oberschicht und Intelligenz so erfolgreich „kultiviert“ und im Zuge der Nationausbildung so breit in der Bevölkerung verankert werden konnte. „Deutsch“ wird im Textzusammenhang als „deutschbewußt“ unter Einwirkung von Ideologie und psychischen Vorgängen verstanden. Deutsche besitzen Antisemitismus und psychische Verdrängungsmechanismen nicht als quasi-natürliche Eigenschaften, sondern sind ihnen via Politik, Medien, Schule immer wieder ausgesetzt, so daß Antisemitismus zum Bestandteil kollektiven Bewußtseins wird. Der Blick auf kollektive Wahnideen und Ideologiegeschichte soll Erklärungsmuster von Kapitalismus, Rassismus, Bürokratie, sexuelle Unterdrückung und autoritärer Persönlichkeit in Bezug auf den Holocaust, ergänzen.

Während sich Anfang und Ende des Textes eines massenpsychologischen Standpunktes bedienen, lehnt sich der Mittelteil an einen ökonomischen Erklärungsansatz von Moische Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus, 1982, an.

Der christliche Antijudaismus

Antijüdische Ressentiments entwickelten sich schon in römischer Zeit als die Mehrheit der Bevölkerung noch einer ganzen Schar von Göttern huldigte und sich mit einem routinierten Opfersystem von Fehltritten freikaufen konnte. Neid und Angst kamen daher schon früh angesichts der jüdischen Minderheit auf, die sich das Weltgeschehen mit einem einzigen Gott erklärte.

Die Juden pflegten keinen entlastenden Opferkult und setzten sich Orga satlon daher einer größeren Verantwortung vor ihrem Gott aus. Die sich in spätrömischer Zeit etablierte, christliche Staatskirche nahm den Opferkult wieder auf, indem sie einen Menschen (Jesus) in den Rang eines Gottes erhob und die christliche Menschheit entlastet wurde. Um diesen Rückfall nach innen und nach außen zu legitimieren, erfand die Kirche die Gefährlichkeit der Juden und verbreitete dabei Legenden von den „Mördern Christi“, „Ritualmördern“ und „Zaubereien“. Die Christen projizierten ihre eigene Schwäche und den eigenen Opportunismus auf ein Feindbild. Diese paranoid-schizoide Projektion wurde in den nächsten Jahrhunderten prägend für die christliche Psyche. Der christliche Antijudaismus äußerte sich in chronischer Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung und in periodisch durchgeführten Pogromen und Vertreibungen. Nach Luther und einigen deutschen Humanisten des Spätmittelalters erhielt der christliche Antijudaismus eine spezielle Ausprägung zum arischen Mythos und christlichen Germanentum.

Diese Ideologie kompensierte nicht gehabte eigene Geschichte. Die Deutschen waren weder besonders „reine Christen“, noch direkte Nachfahren der „Germanen“, sie waren nie ein einheitliches „Volk“, sondern lebten in verschiedenen Regionen und Staaten und hatten verschiedenste Traditionen und Dialekte. Das nicht reale Kollektiv der Deutschen sollte durch Abgrenzung zum Kollektiv der Juden legitimiert werden. Die eigenen, negativ empfundenen Eigenschaften wurden den Feinden zugedacht.

Diese ideelle/ideologische Ebene setzte sich um und wirkte fort auf die materielle gesellschaftliche Ebene, indem etwa wegen ihrer anderen Religion, wegen ihrer anderen Riten und Gebräuche Juden beispielsweise nicht in die Zünfte und Gilden die die Ausübung der Handwerksberufe kontrollierten aufgenommen wurden. Dies wiederum bedeutete in vielen Landstrichen faktische Berufsverbote. Darüber hinaus wurden Juden oftmals gezwungen, sich am Rande von Städten anzusiedeln, was zu ersten Ghettoisierungen führte.

Der moderne Antisemitismus und der Holocaust

Krupp Kannonenwerbstatt in Essen um 1900.

Der moderne Antisemitismus greift in zeitgemäßer pseudo-wissenschaftlicher Weise sozial-darwinistische und rassistische Denkmuster auf. Er erhielt Ende des 19. Jahrhunderts seine Bezeichnung. In ihm wirken aber auch romantische und antimoderne Reflexe aus der Zeit der frühen Industrialisierung nach, die im preußischen Adel, an den Universitäten und im Bildungsbürgertum kultiviert wurden.

Die Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts veränderte sich rasant: massenhafte Industrialisierung und erste monopol-kapitalistische Warenproduktion, Entstehen der Großstädte und des Proletariats waren die neuen Erscheinungen der Klassengesellschaft, die den ehemals feudalen Ständestaat durchdrangen.

Spulenwickelei bei ebenfalls um 1900. Frauen und Mädchen wurden mehr und mehr in der Industrie eingesetzt.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus gewannen ein Eigenleben, eine zweite Natur, ein System von Herrschaft und Zwängen, das, obwohl gesellschaftlich unpersönlich, sachlich und objektiv ist, und deshalb natürlich zu sein scheint.“ (Moische Postone).

Die abstrakte Herrschaft des Kapitals, der Doppelcharakter der Warenwirtschaft von Wert (Preis) und Gebrauchswert (Material und Verwendung) verstrickte die Menschen in ein Netz dynamischer Kräfte, das sie nicht durchschauten und das widersprüchliche und neue Erscheinungen schuf: die Veränderung der sozialen Schichten, eine neue soziale und geographische Mobilität, die Radikalisierung des Proletariats. In diese Zeit fielen antisemitische Charakterisierungen der Juden als „abstrakte, unfaßbare, mobile und universale Macht“. Juden wurden sowohl für die Dynamisierung des Kapitals wie für die Verbreitung des Kommunismus verantwortlich gemacht. Der Herrschaft des unendlich mächtigen, internationalen Kapitals setzen die Antisemiten das Konkrete der überschaubaren Gemeinschaft und des Materiellen entgegen. Sie identifizierten immer stärker die Juden als Personifikation der abstrakten Seite der Kapitalherrschaft.

Dieser, als verkürzter „Antikapitalismus“ zu bezeichnende, Antisemitismus konstruiert einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der Wertedimension und dem materiellen Gebrauchswert der Warenproduktion und Wirtschaft. Die Produktion, die konkrete Arbeit wird als quasi-natürliche Lebens- und Wirtschaftsform angesehen, die von der abstrakten Herrschaft des Geldes, des Finanzkapitals befreit werden muß, damit die negativen Erscheinungen des Kapitalismus vermieden werden. Diese „Hypostasierung“ des Konkreten, also die Überhöhung von Arbeit und industrieller Produktion, kontrastiert mit einem Haß auf das Abstrakte, also die Unwägbarkeiten des Gesamtsystems, werden mit dem Feindbild „Juden“ personifiziert. In diesem Sinne war „Auschwitz eine Fabrik zur Vernichtung der Personifikation des Abstrakten (…) Der erste Schritt dazu war die Entmenschlichung, d.h. die Maske der Menschlichkeit wegzureißen und die Juden als das zu zeigen, was „sie wirklich sind“ Schatten, Ziffern, Abstraktionen. Der zweite Schritt war dann, die Abstraktheit auszurotten, sie in Rauch aufzulösen, jedoch auch zu versuchen, die letzten Reste des konkreten gegenständlichen Gebrauchswertes abzuschöpfen: Kleider, Gold, Haare, Seife. Auschwitz, nicht die „Machtergreifung“ 1933, war die wirkliche „deutsche Revolution“, die wirkliche Scheinumwälzung der bestehenden Gesellschaftsformation“. (Moische Postone)

Nach Auschwitz die deutsche Supernormalität

Auschwitz war sinnlos selbst im Sinne der Täter: Die Kollektivität der Deutschen wurde durch den Holocaust nicht befreit, sondern weiter beschädigt. Das Fehlen von jeglicher Trauer, Schuld und Schamgefühlen für die vernichteten Opfer bei vielen Deutschen in der Nachkriegszeit zeigt die Möglichkeit der deutschen Psyche auf, aus der Tat in einer Art strahlenden Unberührtheit hervorzugehen: Stereotype Erklärungen wie „nichts gewußt zu haben“, die „Gerüchte nicht geglaubt“ zu haben oder „Befehlsnotstand“ weisen auf eine Fortsetzung des psychischen Zustands hin, der den Holocaust mitverursachte: Juden und Jüdinnen wurden weiterhin nicht als Menschen gesehen, sondern als Objektträger eigener, abgespaltener, psychischer Anteile. Trauererscheinungen bei den Tätern sind in diesem Zusammenhang Formen narzistischer Trauer, die mit dem Mißlingen der eigenen „Reinigung“ zu tun haben. Der von Deutschen begangene Zivilisationsbruch als Grenzüberschreitung von der Phantasie zur Realität wird zum Bestandteil des „deutschen Dilemmas“ und führt dazu, daß eine Beschäftigung mit den eigenen psychischen Anteilen, die den Holocaust verursachten, mit schwerer Angst belegt ist und deshalb unterbleibt.

„Volkserziehung“ im Nazi-Faschismus. Irrationale Ressentiments wurden aufgegriffen und in die ausgefeilte antisemitische Propaganda integriert.

Nach fünf Jahren „Wiedervereinigung“ und Stimulation nationaler Gefühle scheint die Zeit der Verdrängung und des Schweigens der Deutschen uber den Holocaust vorbei zu sein. Der für das „Deutschsein“ konstitutive, traditionelle Antisemitismus verteidigt seinen atypischen Exzeß Auschwitz nun offensiv. Der systemhafte Charakter des Antisemitismus und sein Anspruch, das Weltgeschehen zu erklären, zeigt sich in der Ablösung von historischen Formen: Neben die intensivierten Versuche, den Holocaust zu leugnen, abzuschwächen oder im Kriegszusammenhang totalitarismus-theoretisch zu relativieren, tritt die Vorstellung, Juden aus Israel würden Deutschland ständig materiell (durch Wiedergutmachungsforderungen) und moralisch (durch Erinnerung an den Holocaust) schädigen. Im Jahre 1990 verbreiteten deutsche Politikerlnnen und die Medien wieder offen antisemitische Propaganda, in dem sie kolportierten, der linke Jude Gregor Gysi (PDS) habe versucht, die Wiedervereinigung zu verhindern, indem er an ausländische, jüdische Investoren appelliert habe, in der DDR zu investieren (RTL vom 20.2.‘90). Hier zeigt sich der wieder in völliger Offenheit aktivierte antisemitische Gegensatz zwischen „deutscher Identität“ und „internationalem Judentum“. Dazu paßt die chronische Bedrohung der jüdischen Minderheit in Deutschland durch Verwüstung ihrer Friedhöfe, Angriffe auf Synagogen und zum Teil alltäglichen Psychoterror. Die Antisemiten in der deutschen Bevölkerungsbasis sind durch die „Wiedervereinigung“ ermutigt worden.

Dem Antisemitismus entgegentreten!

Die Thematik Antisemitismus, Holocaust und jüdischer Widerstand und Selbstbehauptung hat sich erst langsam in den letzten Jahren bei uns verbreitet in den achtziger Jahren galt die Aufmerksamkeit in linken, grünen und antiimperialistischen Gruppen der Politik Israels. Dabei wurden die Israelis zum Teil in unverhältnismäßiger Weise als „faschistoide Aggressoren“ beschrieben.

Besonders in der Antikriegsrethorik von Grünen und Antiimperialistlnnen in den Achtzigern fiel die Fokussierung auf Israel, als Hauptstütze des Imperialismus im Trikont. Während die Counterfunktion der Türkei, Ägyptens, Saudi-Arabiens und des Irans kaum interessierte, wurde Israel zum Dämon aufgebaut, das die Einigung der „großen arabischen Nation“ verhinderte.

In Parolen wurde im Land der NS-Täterlnnen wo nicht geringe Bevölkerungsteile dankbar für jede Entlastung oder Relativierung der Nazi-Verbrechen sind direkte Gleichsetzung des Staates Israel mit dem nationalsozialistischen Staat von ‘45 betrieben: Mit Zeitungsüberschriften und Parolen jener Tage wie „Endlösung der Palästinenserfrage“ (Arbeiterkampf 1982) und „Zerschlagt den Siedlerstaat Israel“ (mit SS-Runen geschrieben) wurde der „Antizionismus“ im Rahmen des „Antiimperialismus“ als eine der Säulen linken Aktivismus anerkannt.

Niemand kam etwa auf die Idee wegen der Massaker an Kurdlnnen u.a. den „Antikemalismus“ der Türkei in den Rang eines ideologischen Prinzips zu erheben. Egal, ob die Türkei oder Syrien Massaker veranstalteten oder in Saudi-Arabien finsterstes Mittelalter herrschte: Lösung der Probleme war immer der Sieg über die „Zionisten“. Hier zeigte sich, wie verschwörungstheoretische Ansätze und Personifikation von komplexen Problemen in der Form von „Agenten und Zionisten“ sich auch in linken Argumentationsfeldern einfanden und dadurch ungewollt eine Nähe zu antisemitischen Traditionen entstand. Linke, fortschrittliche Analysen und Politikformen müssen deshalb immer auch unter diesen Gesichtspunkten kritisiert werden. Dazu gehört der Abbau von Ignoranz und Wissenslücken bei der Widerstandsgeschichte von Juden und Jüdinnen.

Hinsichtlich des Gedenkmarathons 1995 sollten wir den Beitrag von Jüdinnen und Juden zum Sieg über Deutschland würdigen.

Literaturhinweise:

Arno Lustiger: Zum Kampf auf Leben und Tod – Widerstand von Juden und Jüdinnen gegen Nazideutschiand.

Bettelheim: Antisemitismus in Osteuropa, Picus Verlag.

Mann Keßler: Antisemitismus, Zionismus und Arbeiterbewegung, Akademieverlag.

Zygmund Baumann: Dialektik der Ordnung, Eva.

April 1995