Wie im vorherigen Text dargelegt wurde, kann die Untersuchung der heutigen Situation sich nicht darauf beschränken, nach einer Kopie oder originalgetreuen Wiederholung der historischen Formen des Faschismus Ausschau zu halten. Insbesondere unterscheidet sich die heutige Situation von der damaligen dadurch, daß es heute nicht den Anschein hat, als wäre das kapitalistische System existenziell bedroht, jedenfalls nicht in absehbarer Zeit durch eine starke revolutionäre Systemalternative. Dennoch wurden gesellschaftliche Elemente, die zur bürgerlichen Ordnung vor und unter dem Faschismus gehörten, in die jetzige Form der bürgerlichen Herrschaftsausübung integriert und können sich kurz- oder langfristig in anderer (neuer oder alter) Form zusammenfügen.
a. (Neo)faschistische Organisationen: Auch heute, wie seit 1945 ohne Unterbrechung, existieren im klassischen Sinne faschistische Parteien, Bewegungen, Zirkel, Sekten und Banden, die sich erklärtermaßen oder nicht erklärtermaßen an die historischen Modelle (etwa die NSDAP) anlehnen. Zwischen ihnen und der sie um
gebenden Gesellschaft existiert eine Wechselwirkung, die während unterschiedlicher Zeitabschnitte unterschiedlich sein kann. Seit circa 1994 ist der staatliche Kurs gegenüber faschistischen/nazistischen Organisationen erkennbar ein anderer als der davor, der die Rechtsextremen oftmals frei gewähren ließ (Bsp. Rostock 1992, Aufmarsch in Fulda 1993). Der „Rudolf Heß-Marsch“ 1994 war der erste, der wegen staatlicher Intervention nicht stattfinden konnte; einige Gruppen sind illegalisiert (keineswegs zerschlagen) worden. Auch die Partei „Die Republikaner“ ist durch eine Kampagne der konservativen Kräfte im Wahljahr 1994 zurückgedrängt worden, die sie als nicht gesetzestreu, zerstritten und chaotisch vorführte.
Erstaunlich scheint auf den ersten Blick der derzeitige Umgang mit dem rechten neonazistischen Spektrum. Allein in den letzten zweieinhalb Jahren hat der Staat gegen insgesamt über 10 neofaschistische Organisationen und Gruppen Verbote
erlassen. Zuletzt gar eine Durchsuchungswelle gegen Mitglieder der NSDAP/AO. Dies zeigt, daß der bürgerliche Staat nicht auf eine einzige Art des Umgangs mit diesen Kräften angewiesen ist, sondern zu unterschiedlichen Zeiten sich ihrer bedient oder sie zum Stillhalten zwingt (nicht aber zerschlägt). Die Verbote der letzten Jahre sind zudem vor dem Hintergrund der Schaffung eines „antifaschistischen Images“ für die BRD vor allem in Bezug auf das Ausland von Bedeutung. (Siehe Text zum Totalitarismus, 5. 23ff).
Die bestehende Ordnung hat mehrere sehr unterschiedliche Optionen zur Herrschaftsausübung seit 1994/95 ist vorrangig die Integration früherer fortschrittlicher Opposition durch die Integration der Grünen zur Staatspartei angezeigt (CDU/Geißler, Schäuble).
b. Volksgemeinschaft und Pogrom: Die „volksgemeinschaftliche“ Ausrichtung innerhalb der deutschen Gesellschaft endete nicht mit dem NS-Staat. Die Denk- und Verhaltensmuster wurden als Teil der „kollektiven Psychologie“ konserviert und konnten bei gegebenem Anlaß aktiviert werden. (,‚Antisemitismus ohne Juden“, bei dem die psychologischen Barrieren wegen Auschwitz weitgehend entfallen. Daneben auch noch Antisemitismus virulent: Friedhofsschändungen etc.) Ausdruck dessen war die letzte „Asyldebatte“ 1990-1993. Abrufbare Ressentiments man vergleiche die recht ähnliche Kampagne in den 20er Jahren gegen die Immigration der „Ostjuden“ verbanden sich hier mit dem (sei es realen oder eingebildeten) materiellen Interesse bei vielen Deutschen quer durch alle Bevölkerungsschichten, die relativ privilegierte Lebensweise in diesem Land auch mit Gewalt gegen die Armut der „Dritten Welt“ abzuschirmen. Durch jahrelange systematische Hetze in Politik und Medien entstand in dieser Kampagne ein zeitweises Bündnis zwischen der herrschenden Politik und einem aufgehetzten, lynchwütigen Mob Außerhalb der vom bürgerlichen Staat mit seinem „Gewaltmonopol“ ausgestatteten Organe durften Brandstifter (neben aufgeputschten Jugendlichen auch militante Nazibanden) und rassistische Bürgerinitiativen die „praktische Seite“ der Asyldebatte umsetzen ungestört von den Gewaltorganen des bürgerlichen Staates. Parallel dazu wurden klassisch (neo-) faschistische Parteien im Zuge der (auch) medial aufgeputschten Atmosphäre hochgespült (REPs, DVU). Nach Änderung des Asylrechts und nach den „Unruhen“ im Zusammenhang mit dem Solinger Anschlag zwei Tage später wurde diese Kampagne jedoch
von Seiten der herrschenden Politik zurückgefahren; der Asyl-Artikel 16 GG verschwand vor
übergehend aus den Schlagzeilen.
c. Bevölkerungspolitik/,,Rassenhygiene“: Im Zuge der Biologisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse proklamierte der Nationalsozialismus ein Menschenbild, wonach nur der „gesunde“, starke Mensch überlebens“wert“ sei, nicht dagegen der „kranke“, schwache, vom „Idealbild“ abweichende Mensch. Ein solches Menschenbild hielt sich in den ideologischen Apparaten der Medizin, hat aber seine technische Grundlage weiterentwickelt: wurde im Nazismus „lebensunwertes“ Leben getötet (,‚Euthanasie“) so genügen heute die technischen Möglichkeiten, um zu verhindern, daß es überhaupt geboren wird. Das unerwünschte „kranke“ Menschenleben kann durch vorgeburtliche Untersuchungen ausfindig gemacht werden; durch das „freiwillige Angebot“ an die künftigen Eltern, zwischen Geburt des „kranken“ Kindes und Abtreibung zu entscheiden, setzt sich der gesellschaftliche Druck zur Verhinderung „lebensunwerten“ Nachwuchses auf scheinbar freiwilliger Basis um. Denn wer dann noch „kranken“ Nachwuchs auf die Welt bringt, ist selbst schuld. Während bürgerlich-konservative Kräfte Schwangerschaftsabbrüche zu unterbinden und zu kriminalisieren bestrebt sind, wird der „eugenische“ Grund zum Abbruch der Schwangerschaft (Kind kommt „Krank/behindert“ zur Welt) akzeptiert. Nach Möglichkeit soll „gesunder“ und weißer Nachwuchs auf die Welt gebracht, anderer Nachwuchs (in der „Dritten Welt“, die ja „überbevölkert“ sei zumal der Begriff der Überbevölkerung zudem im Sinne von „Unwert, weil nicht wertschaffend“ benutzt wird) verhindert werden.
d. Repression/Innere Sicherheit: Seit Verabschiedung der Notstandsgesetze im Bundestag 1968 findet ein stetiger Ausbau der Repressionsorgane und Ausweitung der „Inneren Sicherheit“ statt. Eine erste Welle von Gesetzen verabschiedeten SPD und FDP 1972 (Bundesgrenzschutz-, Bundeskriminalamt-, Verfassungsschutzgesetz); es folgten die Höhepunkte der „Terroristen“jagd mit einschneidenden Gesetzesänderungen 1976/77, eine neue Runde von „Sicherheits“gesetzen 1986/87, das „Verbrechensbekämpfungsgesetz ‘94“… Wolfgang Schäuble konnte 1994 selbst den Einsatz der Bundeswehr im Inneren vorschlagen (47-% Zustimmung in Umfragen). Seit Anfang der 70er Jahre findet eine tiefgreifende Änderung der Grundlagen von Kontrollen und Datenspeicherungen statt: immer weiter weg vom Verhalten des Einzelnen (als „Störer/Rechtsbrecher/Verdächtiger“) zu einer verdachtsunabhängigen Kontrolle anhand standardisierter Merkmale, etwa bei der Personenkontrolle mit dem maschinenlesbaren Personalausweis (Ort und Zeit der Kontrolle werden gespeichert, dies ermöglicht Bewegungsprofile). Die Überwachungspotentiale werden dadurch immer umfassender.
Die strukturelle Lösung der Alliierten aus dem Jahr 1945, nach den Erfahrungen mit der GeStaPo, die prinzipielle Trennung von Polizei und Geheimdiensten, wird immer weitergehend unterlaufen und ausgehöhlt.
Abschließendes
Zu Beginn der „Anmerkungen“ wurde die Frage aufgeworfen, woran die Entstehung des Faschismus qualitativ meßbar ist. Die Tatsache staatlicher Repression(s-Potentiale) allein begründet jedenfalls noch keine besondere Qualität, da sie an sich zum Grundmerkmal des bürgerlichen Staates gehört. Im Faschismus war Repression begleitet von paralleler Mobilisierung aktiver Massenzustimmung. Zu beobachten und zu untersuchen ist in der Praxis, inwieweit Massenkonsens und -zustimmung über staatliche Repressionsakte herrschen oder aber diese Objekt und Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen sind. Ein extremes Beispiel weitestgehenden Konsenses war der „Deutsche Herbst“ 1977, als der staatliche Anspruch auf physische Liquidierung seiner entschiedenen Widersacher offen formuliert wurde (Vorschläge von Franz Josef Strauß oder Kurt Rebmann zu Geiselerschießung etc.) und die Gesellschaft in der Atmosphäre der „Terroristen“hysterie weitgehend solche Vernichtungsüberlegungen nicht nur hinnahm, sondern sogar einforderte.
Fußnoten zu den „Anmerkungen“:
1 Im Gegensatz zum abhängigen Bauern früherer Zeiten, der die Früchte seines Feldes und seine Abgaben an den Grundherrn mit eigenen Augen und Händen bemessen kann, „sieht“, „fühlt“ und „riecht“ der moderne Lohnabhängige den Mehrwert seiner Arbeit nicht. Er verkauft seine Arbeitskraft und erhält seinen Lohn dafür, ohne mit dem Wert der von ihm mit seiner Arbeitskraft produzierten Waren direkt in Verbindung zu stehen. Sofern er die Gesellschaft nicht materialistisch analysiert und durchschaut hat, macht er für seine Übervorteilung reflexartig nicht den Fabrikherrn verantwortlich, sondern erst den „wuchernden“ Händler, bei dem er dann mit den produzierten Waren in Verbindung kommt. Der „Händler“ wird so nicht wegen seiner Stellung im ökonomischen System – er kauft die Waren ja von der Fabrik, wo sie produziert wurden, und hängt von deren Preisen ab -‚ sondern wegen seiner „Boshaftigkeit“ verantwortlich gemacht. Der Händler wiederum wird identifiziert mit „dem Juden“, da im Mittelalter und der frühen Neuzeit, angesichts der totalen Reglementierung der Berufe durch das Zunftwesen, der jüdischen Minderheit überhaupt nur bestimmte Berufe zugänglich waren: eben nicht der des Handwerkers, sondern etwa der des Geldverleihers, den der König braucht und daher gegen Pogrome in Schutz nimmt. Somit erklärt das seine Gesellschaft nicht durchschauende Mitglied der Industriegesellschaft sich seine Misere nicht aus dem Gesellschaftssystem, sondern aus der Bösartigkeit „der wuchernden Juden“ als greifbarem, konkretisierbarem Feind.
2 Vgl. dazu: Kurt Gossweiler: „Kapital, Reichswehr und NSDAP 1919 – 1924“, Pahl-Rugenstein, Köln 1982
3 Studie der Gesellschaft für Erfahrungswissenschafliche Sozialforschung (3 1.8.1992): 67% für Änderung des Grundgesetzes mit dem Ziel, „den Asylantenstrom einzudämmen“. INFAS-Umfrage (12.9.1992): 51% halten die Aussage „Deutschland den Deutschen“ für richtig, 26% „Ausländer raus!“, 37 % stimmen der Aussage zu, daß die Deutschen sich „im eigenen Land gegen die Ausländer wehren müssen“. SPIEGEL-Umfrage vom 26.10.92: Bei der Frage nach den wichtigsten Problemen nennen 73% der West- und 73 % der Ostdeutschen: „Das Problem der Ausländer in den Griffen bekommen “. 74% begrüßen den Anti-Asyl-Kurswechsel der SPD (11 % bedauern). ZDF-Politbarometer,
14/15.11.92: Als gegenwärtig drängendstes Thema nennen 75% die „Ausländer- und Asylpolitik“. 70% der West- und 87 96 der Ostdeutschen meinen, daß „die meisten Asylbewerber zur Zeit das deutsche Asylrecht mißbrauchen “. 61 % sind für Grundgesetzänderung.
4 Symbolisch hierfür eine Reihe von Schlagzeilen innerhalb von drei Tagen: „Schwerste Übergriffe gegen Asylbwerber in Rostock“/ „Neues Asylrecht soll in wenigen Wochen gelten: Nach dem Kurswechsel der SPD…“ (,‚Die Welt“, Mo. 24.8.92); „Süssmuth drängt bei Asylrecht/CDU-Politikerin nimmt Angriffe auf Rostocker Heim zum Anlaß“ (FR, Dr. 25.8.92); „Beschluß der Sozialdemokraten zum Asylrecht begrüßt/Stoiber: SPD nun aufBayerns Linie‘~ „Rostock: Die brutalen Ausschreitungen gegen das Asylbewerber-Heim“und „Bei Asyl…: REP5 fühlen sich vom Oberbürgermeister plagiert“ (SZ, 25.8.92); „Die Polizei überläßt Brandstiftern das Feld“ („taz“, Mi. 26.8.92).
April 1995