Befreiung vom Nazi-Faschismus
In der linken Praxis wird oftmals mit Begriffen wie „Faschismus“ oder „Faschisierung“ in bedenklicher Weise umgegangen, indem der Faschismus als eine Art Synonym für „alles Böse und Schlechte auf der Welt“ benutzt und auf alle möglichen Ausprägungen der jetzt herrschenden Verhältnisse bedenkenlos angewandt wird. Indes ist das bürgerliche (imperialistische) System nicht so rosig, daß es ohne faschistisch zu sein keine unangenehmen Seiten hätte. Vielmehr gehört die Aneignung der menschlichen Arbeitskraft durch andere Menschen und die Niederhaltung dessen, was diesen Akt stören könnte, zu jedem bürgerlichen System – etwa in starkem Maß auch zum Bismarck-Reich (industrielle Ausbeutung, Sozialistengesetz). Faschismus ist also qualitativ mehr als das „normale“ bürgerlich-kapitalistische System.
Der Faschismus ging jedoch als Produkt aus dem bürgerlich-kapitalistischen (imperialistischen) System hervor und war in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen in diesem angelegt. Unserer Ansicht nach kann immer nur rückblickend festgestellt werden, wann Entwicklungen und Kräfteverschiebungen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sich zu einer Gesamt-Konstellation verdichten, bei der man von einem „Umkippen“ des bürgerlich-kapitalistischen Systems ins Barbarische wie es beim Faschismus der Fall war sprechen könnte. Ein solches Umkippen, wie auch immer geartet, wird wohl nicht ein zweites Mal genau dieselbe Gestalt wie die historisch gekannte annehmen. Zu beobachten und zu untersuchen bleibt etwa, wohin Entwicklungen um Jörg Haider in Österreich und um Silvio Berlusconi und seine „postfaschistischen“ Partner in Italien hin zu einer Art „autoritären Demokratie“ (mit populistischen und teilweise plebiszitären Elementen) führen werden.
Daher wäre es nicht die richtige Herangehensweise, in Erwartung genau der historisch bekannten Formen und Muster auf die Wiederkunft des „klassischen“ Faschismus zu warten. Vielmehr gilt es im Auge zu haben, inwieweit Kontinuitäten in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen herrschen, welche den Faschismus ermöglicht oder ihn ausgezeichnet haben und inwieweit diese sich (erneut) zu einer Gesamtkonstellation zusammenfügen, die einen qualitativen Bruch mit der „normalen“ bürgerlichen Ordnung bedeuten.
Was macht den historischen Faschismus aus?
Kennzeichnende Strukturmerkmale des europäischen Faschismus der 20er bis 40er Jahre, der von den Extremformen des Nazismus (Nationalsozialismus) in Deutschland einerseits bis zum (eher feudal-katholisch geprägten) Francismus in Spanien andererseits reichte, waren:
a. Der Hintergrund: Eine tiefe existentielle Krise des bisherigen kapitalistischen Systems Ende der 20er/Anfang der 30er Jahre in Zusammenhang mit dem Börsenkrach, dem Einbruch der Banken- und Finanzwelt. Hinzu kam speziell in Deutschland eine tiefgreifende Modernisierungskrise in Zusammenhang mit der gegenüber anderen Staaten (USA) nachholenden Einführung der modernen Produktionsweise („Fordismus“: Massenfertigung, Fließband etc.). Gleichzeitig politische Systembedrohung durch eine kommunistische Alternative, die gesellschaftlich relevant verankert war und das Beispiel einer erfolgreichen Revolution 1917 vor Augen hatte. Das Fehlen von entsprechenden Konzepten, diese Krise mit herkömmlichen (politischen, ökonomischen) Mitteln zu „lösen“.
b. Die Grundlage: Massenbewegung als Gegenbewegung zur sozialistischen Bewegung, die „nationale Idee“ als Gegenentwurf zur „sozialen Idee“ propagierend, teilweise aber auch subjektiv die „nationale“ mit der „sozialen“ Idee zu verbinden suchend. (Beispiel: die Brüder Strasser vom „antikapitalistischen“ Flügel der NSDAP; Teile der SA ausgeschaltet 1934 im „Röhmputsch“). In jedem Fall starke Sozialdemagogie. Radikalisierung auf Massenebene aufgrund von Existenzangst v.a. auch beim abstiegsbedrohten Mittelstand/Kleinbürgertum.
Charakteristisch für diese Bewegungen ist, daß sie vorkapitalistische Denk- und Verhaltensmuster, uralte Vorurteile reaktivieren. Beispiel ist (v.a. in Deutschland und Frankreich) der Antisemitismus, der nunmehr losgelöst von seinen ursprünglich konfessionellen Wurzeln in moderner Form als „wirtschaftlicher Antisemitismus“ daherkommt. D.h. Antisemitismus als scheinbare Erklärung für die kapitalistische Ausbeutung. Die Nationalsozialisten gossen diesen biologisieren den „Antikapitalismus“ in ihre Theorie vom „schaffenden“ und dem „raffenden“ Kapital. Das Industriekapital wurde als fleißiges, produzierendes in Schutz genommen und vom Vorwurf der Ausbeutung freigesprochen, während das „raffende“ Kapital der Händler und das Finanzkapital als das bösartige, wuchernde Gegenstück dargestellt wurde. Das „judische“ Kapital als „raffendes“, ausbeuterisches, wurde zur Enteignung freigegeben, an der sich die „arische“ Konkurrenz ihrerseits mästete („Arisierung“ von Eigentum) damit ging gleichzeitig auch die Ausschaltung der politisch-gesellschaftlich liberalen Elemente des Bürgertums als „jüdisch“ einher. Auch dem von der Großindustrie in seiner wirtschaftlichen Existenz bedrohten Mittelstand lieferte der moderne Antisemitismus die Grundlage seiner
Abwehr gegen die „raffende“, „jüdische“ Konkurrenz der Großkonzerne und Banken und seine Legitimation zur Bereicherung durch „Arisierung“. Somit lieferte der gemeinsame Feind „Der Jude“ sowohl dem politisch nicht aufgeklärten Lohn abhängigen (gegen den vermeintlichen Ausbeuter) als auch dem kleinen und mittleren Besitzbürger und Mittelstand (gegen die Konkurrenz) eine politische und ideologische Grundlage zur vermeintlichen Durchsetzung ihrer Interessen. Das Großkapital wiederum fand seinen Gefallen an der ordnungspolitischen Funktion der Nationalsozialisten als vermeintlich antikapitalistischer Bewegung: durch ihre Frontstellung gegen „die Juden“ als „Krebsübel der Gesellschaft“ tritt das Pogrom
an die Stelle des Klassenkampfs, die Vernichtung der Minderheit an die Stelle der Revolution, die „nationale Idee“ verdrängt oder schluckt die „soziale“ und der „nationale Sozialismus“ tritt an die Stelle des Sozialismus (weshalb ihm auch dieser Name gegeben wurde). Diese Berührung unterschiedlicher Interessen beim gemeinsamen „Feind“ ist der Ausgangspunkt für die „Volksgemeinschaft“ aller Deutschen/,,Arier“.
c. Die Umsetzung: Die NSDAP als Massenbewegung wuchs nicht aus dem Staatsapparat oder aus den herrschenden Eliten heraus, sondern entwickelte sich als eigenständiger Faktor daneben. Freilich standen die herrschenden Eliten bereits bei der Gründung solcher Gruppen wie der damaligen Splitterpartei „Deutsche Arbeiter-Partei“ (DAP) Pate. 1919, in der Bürgerkriegssituation der verhinderten Revolution, unterstützten die zahlreichen militärischen und paramilitärischen Gruppen, „Freikorps“ usw. die Formierung solcher Gruppen, um „den deutschen Arbeiter wieder für das Vaterland zurückzugewinnen“ wozu man eine Bewegung und eine Idee als Gegenstück zur sozialistischen Bewegung und Idee benötigte. Adolf Hitler begann seine Karriere damals als Befreiung vom Nazi-Faschismus Spitzel des Gruppenkommandos der Reichswehr, der in „Schulungskursen“ militärischer Institutionen ideologisch getrimmt wurde; dort spielte auch bereits der Begriff des „nationalen Sozialismus“ (im Sinne der Konzeption als Gegenstück zum Marxismus) eine Rolle.
Als Spitzel der Reichswehr wurde Hitler auch zu den Versammlungen der „DAP“ gesandt. 2 Die NSDAP entwickelte sich dann als eigenständiger Faktor. Der geplante Rechtsputsch unter dem deutschnationalen bayerischen Ministerpräsidenten Gustav v. Kahr scheiterte 1923 an Ungeduld und „Radikalismus“ der NSDAP, die von Seiten der bayerischen Führung beteiligt wurde; die Nazipartei verselbständigte sich also gegenüber den Eliten, statt als
willenloses Werkzeug zu dienen. Nach Wiedergründung der NSDAP 1925 fuhr Hitler bereits 1926/27 mehrfach ins rheinische Industriegebiet Königswinter, Essen um hinter verschlossenen Türen mit Industriellen zu verhandeln. Ab 1929/30, in der Krise, unterstützten größere Teile der deutschen Industrie die NSDAP in bedeutendem Ausmaß (aber auch etwa Henry Ford aus Detroit/USA).
Ein Phänomen dabei war, daß die NSDAP einen Spagat zwischen offener Befürwortung des nationalen Kapitals und gleichzeitiger Ablehnung des internationalen Kapitals schaffte. Die Breite der nationalsozialistischen Bewegung wurde weniger durch offenes prokapitalistisches Auftreten erreicht als vielmehr über die Linie der SA, die mit nationalrevolutionären (vermeintlich antikapitalistischen) Parolen vor allem das mit Existenzangst behaftete Kleinbürgertum an sich band und sogar ein Einsickern in Schichten der Lohnabhängigen erreichen konnte. Nichts desto trotz bildeten diese beiden vermeintlichen Flügel keinen Widerspruch.
Während Hitler und Konsorten das Geld für den Aufbau einer Massenpartei in enger politischer Zusammenarbeit mit ihren Geldgebern anhäuften, sorgten nationalrevolutionäre Parolen für die Vorbereitung der entstehenden Massenbewegung. Auf den Punkt brachte die politische Situation des offenen Zusammenarbeitens rechter/faschistischer Kräfte mit geldstarken Großindustriellen und einflußreichen Medienfürsten die Gründung der „Harzburger Front“. Diese, am 11./12. Oktober 1932 in Bad Harzburg ins Leben gerufene Vereinigung, war ein Zusammenschluß der NSDAP, des Stahlhelms, der DNVP sowie verschiedener Großindustrieller und des Mediengiganten Hugenberg.
d. Faschismus an der Macht: Weitgehende Aufhebung der „Spielregeln“ der bisherigen bürgerlichen Gesellschaft, um den Kern der kapitalistischen Interessen zu wahren. Völlige Entmachtung der bisherigen politischen Vertreter der Bourgeoisie und schärfste Repression gegen jegliche Kritik; völlige Aufhebung bürgerlich-liberaler Prinzipien wie Pluralismus, die sonst gewährleisten, daß die verschiedenen Gruppen und Interessen der modernen bürgerlichen Gesellschaft ihre Interessen aufeinander abstimmen. Staatliche Planwirtschaft, insbesondere freilich im Interesse der Rüstung und Kriegswirtschaft, durchaus auch im Interesse der Großkonzerne. Gleichzeitig im Inneren der Betriebe Prinzip der „Betriebsgemeinschaft“ unter einem „Betriebsführer“ als verschärfte kapitalistische Hierarchisierung. „Volksgemeinschaft“ als Bündnis von aufgehetztem Mob und Eliten; Einbeziehung der auf gehetzten Massenbasis in die straffe hierarchische Durchorganisierung der gesamten Gesellschaft etwa als „Blockwarte“, organisatorische Erfassung der Jugend. Im deutsch besetzten Teil Europas: Deportation und Vernichtung insbesondere der jüdischen Bevölkerung (und Sinti & Roma…), zumindest in der Konsequenz der Vernichtung (anders Zwangsarbeit) losgelöst von kapitalistischer/ökonomischer oder strategischer Rationalität Noch 1944 werden kriegswichtige Verkehrswege und Infrastruktur für die „Transporte“ nach Auschwitz benutzt.
Fazit: Nebeneinander von radikalisierten kapitalistischen Interessen und politischer/ideologischer Eigendynamik zwecks äußerster rücksichtsloser Durchsetzung hierarchischer Interessen.
April 1995