Personelle und strukturelle Kontinuität des „III. Reichs“ und der BRD

Mit der Niederschlagung der deutschen Wehrmacht durch die Alliierten war der Nationalsozialismus nicht beseitigt. Um dies zu erreichen, beschlossen die Alliierten die Entnazifizierung (Bestrafung der nationalsozialistischen (Kriegs) Verbrecher und Militaristen und deren Ausschluß aus allen staatlichen, politischen und wirtschaftlichen Stellungen). Die Handhabung der Beschlüsse war sehr unterschiedlich, eindeutig jedoch die Renazifizierungstendenzen beim Aufbau der BRD. Aus diesem Grunde werden im folgenden verschiedene gesellschaftliche Bereiche durchleuchtet, um die Systematik zu belegen, mit der faschistische Strukturen und nationalsozialistische Verbrecher in die BRD übergingen und integriert wurden.

Die sogenannte Entnazifizierung und die Kriegsverbrecherprozesse

Bei der beschriebenen Entnazifizierung wurde in folgende fünf Kategorien eingeteilt:

1. Hauptschuldige, Kriegsverbrecher

2. Belastete

3. Minderbelastete

4. Mitläufer

5. Entlastete

Gegen Kriegsverbrecher wurde in den Nürnberger Prozessen verhandelt, wo bei 23 Anklagen zwölf Todesurteile, siebenmal lebenslänglich, drei Freisprüche ein Angeklagter (Göring) beging Selbstmord verhängt wurden. Mit der lebenslänglichen Haftstrafe von Hitler‘s Stellvertreter Rudolf Heß wurde nur eine lebenslängliche Haftstrafe vollstreckt Alle anderen Naziverbrecher wurden nach wenigen Jahren entlassen.

Die Westalliierten handhabten die Entnazifizierung wesentlich inkonsequenter als die Sowjets:

Während in Ostdeutschland über 60000 Naziverbrecher verurteilt wurden, gingen die Westalliierten nur in 5487 Fällen gegen Nazis vor.

Die Urteile der Nürnberger Prozesse, die die Aburteilung der hauptverantwortlichen Kriegsverbrecher gewährleisten sollten, fanden 1946 bei 78 % der Bevölkerung Zustimmung. 10 % bewerteten die Bestrafung als zu streng. Bis zum Jahre 1950 veränderte sich die Stimmung in der Bevölkerung: Bereits 40 % bewerteten die Bestrafung als zu streng. Der Prozentsatz derer, der die Bestrafung als gerecht empfand, sank auf 38 %. Forciert wurde diese Entwicklung von der Regierungsspitze: Konrad Adenauer, erster Bundeskanzler der BRD und CDU-Politiker, setzte sich engagiert für Kriegsverbrecher ein. Er forderte die Begnadigung mehrerer NS-Größen, unter anderem des ehemaligen Staatssekretärs und Justizministers Schlegelberger. Adenauer dazu: „Die wirklich Schuldigen an den Verbrechen, die in der nationalsozialistischen Zeit begangen worden und sind, sollen mit aller Strenge bestraft werden. Der Krieg und die Wirren der Nachkriegszeit haben eine so harte Prüfung für viele gebracht und solche Versuchungen, daß man für manche Verfehlungen Verständnis au/bringen muß. Es wird daher die Frage einer Amnestie von der Bundesregierung geprüft werden,“ ( 20. September 49)

Die Bundesregierung hat die alliierten Urteile nie anerkannt. In amtlichen Dokumenten werden Begriffe wie Kriegsverbrecher nie verwandt. Die Rede ist von Kriegsverurteilungen, sogenannten Kriegsverbrechern, „Kriegsverbrechern“ oder gar von politischen Gefangenen.

1952 erklärte die Bundesregierung die Entnazifizierung für beendet.

Die Folgen:

Faschistische Kontinuität in Staat und Verwaltung

Die Anklagebank in Nürnberg:
Von links nach rechts: Göring, Dönitz, Heß, Ribbentrop, Raeder, Keitel von Schirach, Sauckel, Kaltenbrunner,
Rosenberg, JodI.

In allen Bereichen und Ebenen des Staates (Kommunal-, Länder- und Bundesebene) und der Verwaltung konnten nach 1945 Nazis und Kriegsverbrecher erneut Fuß fassen und ihre Karriere fortsetzen.

Nach der Analyse des amerikanischen General-konsulates über „Renazifizierung der öffentlichen Verwaltung des Landes Bremen“ arbeiteten 1949 in der Justizbehörde Bremens 45 % ehemalige NSDAP- Mitglieder, in der Finanzbehörde 40%. In Schleswig.Holstein wurde im September 1950 mit dem CDU-Politiker Bertram erstmals ein ehemaliger NSDAP-Politiker Ministerpräsident. 1978 wurde mit Hans Filbinger (CDU) ein ehemaliger Nazirichter Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Besonders heikel: Filbinger plädierte als Staatsanwalt sogar kurz vor Kriegsende noch für die Todesstrafe gegen einen Deserteur.

Aber nicht nur auf Länderebene etablierten sich NS~Politiker: Die Bundesregierung besetzte mindestens 30 % der hochrangigen Beamtenstellen mit früheren Mitgliedern der Nazipartei. Die deutliche Neigung, große Nazis noch eher einzustellen als diejenigen, die niedrigere Positionen inne hatten, wurde am 11. Mai 1951 mit dem Gesetz zur Regelung des Rechtsverhältnisses Angehöriger des öffentlichen Dienstes legitimiert: „Alle ehemaligen Diplomaten, Polizisten, Beamte und Richter sind bevorzugt einzustellen.“ 1961 wurde diese Regelung auch auf ehemalige SS-Angehörige erweitert.

Beim Aufbau des Auswärtigen Amtes wurde 1951 die Garantie formuliert, keine Konsulbeamten zu beschäftigen, die mit der NS-Bewegung in Verbindung gestanden hatten. Eine französische Studie belegte jedoch, daß die Hälfte aller Mitarbeiter ehemals in der NSDAP waren. Ein Jahr später wurde sogar nachgewiesen, daß 62 % der Beamten in die Entnazifizierungskategorien 3 und 4 eingestuft worden waren, 43 ehemalige SS-Angehörige und 17 ehemalige SD- oder Gestapomitglieder wurden namentlich genannt. Adenauer dazu: „Die wirklich üblen Nazielemente müssen entfernt werden und der Anteil der Übernommenen darf nicht allzu hoch sein. Andererseits muß die Maschine laufen.“ Konsequenz aus der französischen Anklage: lediglich vier Beamte wurden suspendiert.

Die englische Zeitung The Guardian faßte Anfang der 60er Jahre die personellen faschistischen Kontinuitäten treffend zusammen: „Das Wegräumen von Altnazis würde einige Bundesministerien fast völlig ihrer hohen Beamten berauben. Das Außenministerium würde alle seine Sachverständigen verlieren. Der diplomatische und konsularische Dienst würde untergraben werden, ebenso der Polizeiapparat, die juristischen und erziehungswissenschaftlichen Institutionen und Gemeindeverwaltungen.“ (siehe AK, damals Arbeiterkampf, heute Analyse und Kritik, Nr. 156, 25.6.1979).

Der Aufbau des Bundesnachrichtendienstes (BND) belegt die Existenz von strukturellen faschistischen Kontinuitäten. Eine „Lehre“ aus dem Nationalsozialismus beim Aufbau der BRD sollte das Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten sein (Gestapo-Verbot). Mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz von diesem Jahr wurde diese Trennung offiziell aufgehoben (inoffiziell gab es die Zusammenarbeit zwischen BND und Polizei zu jeder Zeit). BND und Polizei können ihre Ergebnisse fast willkürlich austauschen.

Faschistische Kontinuität in der Justiz

Das Zitat der englischen Zeitung wies auf die Zustände auch in der Justiz hin: Die in diesem Zusammenhang am häufigsten angeprangerte Tatsache ist die, daß kein einziger NS-Richter oder Staatsanwalt jemals zur Verantwortung gezogen wurde. Mehr noch: die Richter und Staatsanwälte wurden in die BRD-Justiz übernommen. 10 % aller in den fünfziger Jahren tätigen Juristen haben im Dritten Reich nachgewiesenermaßen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Noch 1957 waren 40 % der tätigen Juristen ehemalige NS-Richter. Wie urteilt eine solch belastete Justiz? „Zahlenmäßig tritt es offen zutage: Die Bilanz zeigt, daß sich die deutsche Justiz nur sehr schleppend dem verbrecherischen Erbe des Nationalsozialismus nach 1949 widmete. Wenn überhaupt Urteile gefällt wurden, dann fielen sie oft sehr milde aus Insgesamt ist der Strafverfolgung von NS-Verbrechen während der ersten Hälfte der fünfziger Jahre das Prädikat „halbherzig“ verliehen worden.“ (aus „Nach Nürnberg“, S. 165)

Faschistische Kontinuität beim Aufbau der Bundeswehr

Beim Aufbau der Bundeswehr, der trotz heftigen Widerstands gegen Wiederbewaffnung und Militarismus nicht verhindert werden konnte, griffen die Regierenden auf Altvertrautes zurück. Zahlreiche Offiziere, Generäle und Kriegsstrategen sammelten ihre Erfahrungen in der deutschen Wehrmacht. Mindestens 71 Bonner Generäle dienten den verbrecherischen Führern des „III. Reichs“, 45 standen bereits unter Hitler im Generalsrang. Sieben Generäle und Admirale der Bundeswehr sind abgeurteilte Kriegsverbrecher oder stehen auf alliierten Kriegsverbrecherlisten.

„….ehrenvoll für Deustchland gekämpft.“ SS- und Wehrmachtsgreuel: Lynchjustiz kurz vor Beendigung des II. Weltkriegs.

Um ehemalige Wehrmachtsoldaten wieder einziehen zu können, rehabilitierte Adenauer diese 1951 in einer Ehrenerklärung vorm Bundestag: „Die Zahl derjenigen, die sich wirklich schuldig gemacht haben, ist so außerordentlich gering und so außerordentlich klein, daß damit der Ehre der früheren deutschen Wehrmacht kein Abbruch getan wird.“ Später dehnte er dieses Bekenntnis sogar auf ehemalige Angehörige der Waffen-SS aus, aber nur insoweit diese „ausschließlich als Soldaten ehrenvoll für Deutschlandgekämpft“ hätten. Nach einem Treffen mit Angehörigen der Waffen-SS im Oktober 1951 wandte sich auch der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher gegen eine „pauschale Stigmatisierung ehemaliger SS Angehöriger“. 1956 wurden frühere SS-Mitglieder mit Einschränkungen wieder in die Bundeswehr zugelassen. In diesem Jahr waren 508 ehemalige SS-Angehörige bei der Bundeswehr, davon 33 Offiziere. Massiver Protest, vor allem jüdischer Organisationen, änderte nichts an diesem Zustand.

Faschistische Kontinuität in der Wirtschaft

Um den Profit zu maximieren, forcierten die großen Industriekonzerne Hitlers Aufrüstungspolitik, die Errichtung von Arbeits- und Konzentrationslagern und die Kriegsvorbereitungen. Die größten deutschen Konzerne, die IG Farben Industrie AG, die Friedrich Krupp AG und die Friedrich Flick AG spielten dabei die Hauptrolle.

Die IG Farben Industrie AG: die IG Farben war als größtes Unternehmen der führende Chemiekonzern der deutschen Wirtschaft. Mit der Herstellung von Sprengstoffen aller Art konnte der Konzern enorme Gewinne bei der Aufrüstung verbuchen. Cyklon B, das Giftgas der Gaskammern, das zur industriellen Massenvernichtung in den KZ‘s eingesetzt wurde, wurde von IG Farben produziert. Der Konzern finanzierte und förderte die Forschung in den KZ‘s, bei denen Menschen zu Tode gefoltert wurden.

Nach 1945: Der Direktor der IG Farben, Wilhelm Biedenkopf, Nazi-Faschismus blieb unbehelligt und wurde nicht zur Verantwortung gezogen. Lediglich das geringe Auslandsvermögen wurde eingezogen, das Inlandsvermögen blieb unangetastet. Der Großkonzern wurde in Einzelunternehmen aufgespalten (BASF, Höchst, Bayer…), was der Wirtschaftlichkeit der Unternehmen keinen Abbruch tat. Die Konzerne bestehen bis heute ohne nennenswerte Umstrukturierungen mit denselben Führungskräften und Einflußmöglichkeiten weiter.

Die Friedrich Krupp AG und die Friedrich Flick AG: Schon Ende der 20-er, Anfang der 30-er Jahre unterstützten diese Konzerne die NSDAP durch Geldspenden und verhalfen Hitler durch Verhandlungen mit der Regierungsspitze an die Macht.

Die Unternehmen verschrieben sich vor allem mit der Stahlproduktion der Rüstungsindustrie und zwangen Häftlinge in Konzentrations- und Arbeitslagern, sich für den Profit der Konzernführung zu Tode zu schuften. Die Vorsitzenden der Konzerne, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach und Friedrich Flick waren Mitglieder der Wehrwirtschaftsführung, welche die Interessen der Rüstungsindustrie und der Reichsführung koordinierte.

Nach 1945: Die Vorstandsvorsitzenden der Konzerne, Krupp und Flick wurden als Kriegsverbrecher zu zwölf bzw. sieben Jahren Haft verurteilt. Krupp wurde unter persönlichem Einsatz Adenauers nach drei Jahren begnadigt und die Vorstandschaft zurück in seine Hände gelegt. Flick wurde es ermöglicht, während seiner Haftstrafe an Vorstandssitzungen teilzunehmen, um so seine Geschäfte fortzusetzen. Beide Konzerne haben nichts an wirtschaftlicher Bedeutung eingebüßt. Die Krupp- und die Flick AG zählen weiterhin zu den mächtigsten, einflußreichsten und größten Stahl- und Rüstungsproduzenten, die Flick AG beteiligt sich darüber hinaus ertragreich an der Atomindustrie.

Beispiele für personelle Kontinuität

Militär

Adolf Heusing

Vom Chefplaner Hitlers zum Chefplaner Adenauers

Mitplaner der Überfälle auf 20 europäische Länder

Mitbegründer der „Politik der verbrannten Erde“ (völlige Zerstörung gegnerischer Gebiete vor dem Rückzug)

Planer des sogenannten Volksturms, der den Einzug von Kindern und Greisen kurz vor Kriegsende vorsah

ab 1950: offizieller Berater der Bundesregierung für Sicherheitsfragen

ab 1952: Chef der Militärabteilung

ab 1955: Vorsitz des militärischen Führungsrates der Bundeswehr

ab 1957: 1. Generalinspekteur der Bundeswehr

196 1-64: Vorsitzender des Ständigen Militärausschußes der NATO in Washington

Justiz

Erwin Schüle

Vom SA-Offizier zum Nazi-Jäger

ab 1933: Mitglied der SA

ab 1943: hoher Offizier der Wehrmacht, der die „Politik der verbrannten Erde“ vor Leningrad praktizierte

kommandierte eines der berüchtigten Strafbataillone an der Ostfront

ab 1964: Leiter des Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen

Politik

Hans Filbinger: Karriere im NS-Faschismus und in der BRD.

Hans Filbing

Vom NS-Marinerichter zum Ministerpräsidenten von Baden-Würtemberg

1934: der Jurist Filbinger veröffentlicht in einer Fachzeitschrift folgendende These: „erst der Nationalsozialismus schuf die geistigen Voraussetzungen für einen wirksamen Aufbau des deutschen Rechts“

16. März 1945: Filbinger beantragt als Staatsanwalt die Todesstrafe für den Matrosen Walter Gröger, der daraufhin exekutiert wurde.

29. Mai 1945: Filbinger verurteilt sogar nach Kriegsende einen Soldaten zu 6 Monaten Gefängnis, weil er

Vorgesetzte Nazihunde nannte und sich das Hakenkreuz von der Uniform riß.

1978: Filbinger wird Ministerpräsident von Baden-Württemberg.

1987: Filbinger tritt aufgrund großen öffentlichen Druckes zurück.

Quellen:

1. Kriegs- und Naziverbrecher in der BRD, Braunbuch, Berlin 1965, Staatsverlag der DDR

2. Deutsche Kriegsbrandstifter wieder am Werk, Berlin 1959, Verlag des Ministeriums für nationale Verteidigung der DDR

3. Nach Nürnberg, Ulrich Brochhagen, Hamburg 1994, Junius Verlag

April 1995