Ihre Rache ist, ihre Geschichte zu erzählen

Heute wurde das Urteil gegen Bruno D gefällt, der von August 1944 bis April 1945 im Konzentrationslager Stuffhof in 5230 Fällen Hilfe zur Begehung heimtückischen und grausamen Mordes geleistet hat. Bei dem Strafmaß von zwei Jahren auf Bewährung folgte das Gericht dem Antrag der Nebenklage. Es wird wohl einer der letzten, wenn nicht der letzte Prozess dieser Art vor einem deutschen Gericht sein. Damit schließt sich das zeitliche Fenster, in dem die Verbrechen im Nationalsozialismus juristisch aufgearbeitet werden können. Es ist gerade einmal 10 Jahre her, 65 Jahren nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, dass ein Paradigmenwechsel stattfand, als John Demjanjuk wegen Beteiligung an der industriellen Vernichtung verurteilt wurde, ohne dass ihm ein konkreter Mord nachgewiesen werden konnte.

Als „Iwan der Schreckliche“ galt der Verurteilte, der nachweislich im Jahr 1943 als SS-Aufseher im Vernichtungslager Sobibor seinen Dienst tat und sich dort – den Aussagen der Überlebenden zufolge – durch besondere Brutalität einen Namen machte. Der Ukrainer war zu Kriegsbeginn Soldat bei der Roten Armee gewesen und nach einer Niederlage im Jahr ’42 von der Wehrmacht zu Hilfsdiensten verurteilt worden. Über die SS führte sein Weg in das Lager Sobibor, wo er als Wachmann eingesetzt wurde. Von den Alliierten blieb er nach dem Krieg unbehelligt und so gelang es ihm ohne größere Probleme, Anfang der 50er Jahre in die USA auszuwandern. Hier nahm er den englischen Vornamen John an und widmete sich voll und ganz seiner bürgerlichen Existenz, die er über mehrere Jahrzehnte verlebte.

Erst 1983 wurde der Staat Israel auf ihn aufmerksam, dem es schließlich 1987 gelang, den Prozess gegen ihn in Jerusalem zu beginnen. Weil ihm im Laufe dieses exemplarischen und aufreibenden Prozesses nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, tatsächlich mit „Iwan dem Schrecklichen“ identisch zu sein, wurde er nach Maßgabe der Unschuldsvermutung schließlich freigesprochen. Nach insgesamt sieben Jahren Untersuchungshaft im Laufe des Prozesses war das israelische Gericht sich zwar sicher, dass er als Aufseher in Sobibor tätig gewesen war, jedoch war es nicht möglich, ihm auch nur einen Mord tatsächlich nachzuweisen.

Erst im Jahr 2009 wurde gegen ihn in Deutschland prozessiert. Hintergrund hierfür war eine Ermittlung der zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, die es als erwiesen ansah, dass Demjanjuk im Jahr ’43 als Aufseher in Sobibor tätig war. Nach vergleichsweise kurzen zwei Jahren Prozess kam das deutsche Gericht zu dem Urteil, dass Demjanjuk sich unzweifelhaft in jenen fast 29.000 Fällen der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht habe, auch wenn es nicht möglich sei, ihm einen Mord konkret nachzuweisen. Wegen der freiwilligen Mitgliedschaft in der SS als Wachmann, wurde er wegen „funktioneller Beihilfe“ zum Mord verurteilt.

Ähnlich verhält es sich bei dem inzwischen greisen Bruno D., der wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 5.230 Fällen verurteilt wurde. Als SS-Wachmann im KZ Stutthof hat er seinen Teil zum Funktionieren der Todesmaschinerie beigetragen. Da er damals erst 17 Jahre alt war, fand der Prozess vor einer Jugendstrafkammer statt.

Die deutsche Justist hat es damit nur ganz knapp nicht verpasst, diese eher symbolischen Urteile zu fällen. Denn nur kurze Zeit nach seiner Verurteilung verstarb der inzwischen greise Demjanjuk. Bruno D war während des letzten halben Jahres immer nur für höchstens zwei Stunden in der Lage, dem Prozess zu folgen. Trotzdem ist es wichtig, dass deutsche Gerichte festgestellen: Das, was die Deutschen im KZ Stutthof getan haben, war ein Massenmord – und auch die Helfer wie die Wachleute haben Unrecht getan. Doch viel zu spät fand dieser Paradigmenwechsel statt. Das Verhalten der deutschen Justiz gegenüber den Opfern war geprägt von Demütigungen und dem Unwillen, deutsche Täter*innen zur Verantwortung zu ziehen. Auch der Prozess gegen Bruno D war nicht frei von Demütigungen, als das Gericht die Einstellung bezüglich eines Teils der Vorwürfe – konkret der Beihilfe zur versuchten Ermordung der anwesenden Überlebenden – aus „verfahrensökonomischen“ Gründen erwägte. Die Wichtigkeit dieser Prozesse auch gegen mittlerweile sehr alte Täter ist nicht zu unterschätzen, ermöglichen sie es doch, den Opern, in der Rolle der Nebenkläger, ihre Geschichte und die ihrer ermordeten Angehörigen zu erzählen. Das eindrückliche Plädoyer der Nebenklage sei hier jedem empfohlen ((Plädoyer der Nebenklage in der Zeit, 17.07.2020).

Als Antifaschist*innen ist es auch und besonders an uns, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und Faschismus hochzuhalten. Noch ist es möglich, den letzten Überlebenden zuzuhören. Uns wird der persönliche Kontakt zu diesen mutigen und tapferen Überlebenden fehlen, deren Rache es ist, ihre Geschichte zu erzählen. Es wird an uns sein, diese Geschichte weiterzuerzählen, damit niemals ein Strich unter den deutschen Zivilisationsbruch gezogen wird und die Erinnerung und das Gedenken wach bleiben.

Die letzten Nazi-Täter sterben aus (TAZ 29.12.2019)

Stutthof-Prozess: KZ-Überlebender sagt per Video aus (NDR, 23.04.2020)

Von Fleckfieber, Hunger und Gas (Jungle World, 07.05.2020)